«Ja, es ist eine Veränderung im Gang»

Berner Oberländer / Thuner Tagblatt

Dienstag, 21. Juli 2020

Der Oberländer Walter Ammann gründete einen Verein, um das verheissungsvolle Wirtschaftssystem Gradido umzusetzen. Damit bewegt er sich an der Grenze zwischen Vision und Illusion.

Alex Karlen

Nein, ein Fantast ist er gewiss nicht. Wenn Walter Ammann über das Leben sinniert, dann basiert das nicht auf Fiktion, sondern auf Fakten. Auf Erfahrung. Die hat der 70-jährige Mattner, der in Interlaken aufgewachsen war, auf der halben Erdkugel gesammelt. Unter viel an-derem als Geschäftsführer und Sport-Chef beim FC Thun, als Instruktor beim Schweizer Fussballverband, als Projektleiter «Ausbildung und Entwicklung des Fussballs» in der Elfenbeinküste, als Teilnehmer an der Convention von Business Network International in Kalifornien, als Firmengründer von «wake up change – gmbh für lebensqualität», als Weltreisender. Seit 2011 ist er wieder zurück auf dem Bödeli.

Und nun greift dieser patriotische Kosmopolit, dieser Utopist, der kein Fantast ist, endgültig zu den Sternen. Seine Vision: «Jeder Mensch sollte sein eigenes Brot dort verdienen können, wo er lebt, und wir alle müssen in Frieden miteinander und in Harmonie mit der Umwelt leben können.» Der Name der Vision: Gradido.

Die suche endete in Deutschland

Zuerst die Rückblende. 2017 erlitt Walter Ammann einen Hirnschlag, «Gott sei Dank ohne körperlich spürbare Folgeschäden». Aber mit anderen Folgen: «Ich ging auf die suche, so wie viele andere Menschen, die von einer besseren Welt träumen beziehungsweise diese sich sogar vorstellen können.» Im vergangenen Herbst endete die suche. In Deutschland, wo der studierte Musiker und Mathematiker Bernd Hückstädt bereits seit Jahren ein neues Wirtschaftssystem inklusive neuer Weltwährung propagierte. Gradido. «Das ist die Lösung!», war Walter Ammann überzeugt. Und da er schon immer ein Mann der Praxis war, gründete er kurz da-rauf, im vergangenen April, mit Gleichgesinnten und in Absprache mit Bernd Hückstädt den Förderverein «pro-gradido.swiss».

Jährlich 50 Franken

Inzwischen bestehen drei regionale Gruppen, Mittelland, Ost-schweiz und Zürich. Die Mitgliedschaft kostet jährlich 50 Franken, für Vereine und Firmen 500 Franken. Präsident Ammann hofft nicht nur, aber auch auf junge Leute – und auf bekannte Persönlichkeiten. «Es geht jetzt darum, Gradido noch bekannter zu machen und umzusetzen.» Aufbau und vorgehen erinnern teilweise an Sekten wie Scientology. Für die weltweit bis-her knapp 5000 Mitglieder gibt es Bücher, Videos und einen Lehrgang zum Gradido-Botschafter. «Aber», so entgegnet Walter Ammann, «es geht nicht darum, Geld zu verdienen, sondern aktiv beizutragen, die Welt zum Positiven zu verändern.» Er selber investiere in Gradido etwa 50 Franken pro Monat, und notabene lebe Gradido-Erfinder Hückstädt «in einfachsten Verhältnissen».

Ziel ist ein dreifaches Wohl

«Es darf doch einfach nicht sein, dass täglich 24’000 Menschen an Hunger sterben», sagt Ammann. Ziel für die gesamte Menschheit müsse ein dreifaches Wohl sein: «Das persönliche Wohl, das Wohl der anderen und das Wohl der Natur.» Vorbilder seien in Fauna und Flora genügend zu finden. «Die Biene etwa erfüllt dieses dreifache Wohl geradezu exemplarisch.» Apropos Vorbilder: Für Walter Ammann sind es Nelson Mandela, Martin Luther King und Mahatma Gandhi. Eine zusätzliche Orientierungshilfe bieten ihm und seinem Verein die 17 Ziele der UNO für eine nachhaltige Entwicklung, «die endlich erfüllt werden können», ist Ammann überzeugt.

An der Grenze zur Illusion

Walter Ammann ist ein begnadeter Kommunikator. Seine Lebensweisheiten leuchten auch jenem Zuhörenden ein, der die Chancen auf eine weltweite Einführung von Gradido als gegen null einschätzt. «Die Geschichte dieser Welt wurde nicht von Mehrheiten geschrieben, sondern von Einzelnen.» Oder: «Wenn ich nicht mehr daran glaube, etwas verändern zu können, dann braucht es mich nicht mehr.» Ammann zitiert Her-mann Hesse: «Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.» Und schliesslich kommt auch Albert Einstein zu Wort: «Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.» Trotzdem: Wie nahe ist die Vision namens Gradido an der Grenze zur Illusion? Ammann muss nur kurz überlegen. «Je grösser, je gewichtiger, je wichtiger eine Vision ist, umso mehr nähert sie sich der Illusion.» Gerade die Corona-Krise habe aber auch schon viel positive Energie ausgelöst. Für Walter Ammann ist klar: «Ja, es ist eine Veränderung im Gang.»

So soll Gradido funktionieren

Gratitude (Dankbarkeit), Dignity (Würde) und Donation (Gabe, Geschenk):

Aus Anfangsbuchsta-ben dieser drei Wörter setzt sich Gradido zusammen. Gradido wiederum ist die Bezeichnung sowohl für das Wirtschaftsmodell, wie es sein Erfinder Bernd Hückstädt definierte, als auch für die Währung, die eingeführt werden soll. Gradido verspricht ein «akti-ves Grundeinkommen» für alle Menschen, einen schuldenfreien Staatshaushalt für jedes Land und einen Fonds für den Schutz der Umwelt. «Das Gradido-Modell kann weltweiten Wohlstand und Frieden schaffen» , ist Walter Ammann überzeugt. «Es folgt dem Naturgesetz, dass nur dort, wo etwas vergeht, Neues entstehen kann.» Doch wie soll das konkret funktionieren? Für jeden Menschen dieser Welt, also auch für Kinder, werden monatlich 3000 Gradido veranschlagt. Ein Drittel davon geht auf ihr eigenes Konto, deckt die Lebenshaltungskosten und dient als Gegenleistung für 50 Arbeitsstunden (Kinder und Kranke ausgeschlossen) für das Gemeinwohl. In örtlichen Vollver-sammlungen wird über mögliche Arbeitseinsätze diskutiert. Ein Drittel behält der Staat, und das letzte Drittel fliesst in den soge-nannten Ausgleichs- und Umwelt-fonds, mit dem biologische Pro-dukte und umweltschonende Technologien subventioniert werden. Steuern oder andere Abgaben werden keine mehr erhoben. Die Gesundheitsversorgung ist für die Leute gratis, weil sie durch den Staatshaushalt gedeckt wird. (aka)